
#5 Bolu — Degirmangzi — Besikdüzü
An diesem Morgen schliefen Hüseyin und ich aus; er hätte zwar eigentlich Uni gehabt, aber was tut man nicht alles für seine Gäste.
Wir frühstückten, ich kaufte noch kurz unfassbar leckere Simit ein und fuhr los. Als heutiges Ziel stand Samsun auf dem Plan, eine Stadt an der Schwarzmeerküste.
Es begann mal wieder leicht zu regnen, ich machte das Radio an, schob einen Kassette in den Schacht und begab mich wieder auf die Straße. Ich führte noch ein paar Telefonate mit Deutschland und glitt entspannt über die perfekte Straße hinweg. Ich beobachtete die Dörfchen entlang der Straße, ab und an verkauften ein paar Bauern ihre Waren direkt am Straßenrand. Ich hielt kurz an und kaufte ein paar frische Früchte und etwas Tee.
Plötzlich kam der gesamte Verkehr zum Stillstand. Irgendwann stieg ich aus und kam mit zwei Türken ins Gespräch, die in den Niederlanden wohnen und auf dem Rückweg nach Hause waren. Sie erzählten mir, dass vor uns vor einigen Stunden ein Reisebus auf einen LKW aufgefahren war, es endete in einem Feuer und mindestens 14 Menschen starben.
In diesem Moment wurde mir bewusst, wie dankbar ich doch sein kann, dass mir bisher nichts passiert ist und es mir gut geht, und wieder einmal daran erinnert, wie schnell sich alles ändern kann — ich werde weiterhin vorsichtig unterwegs sein.
Rien ne va plus.
Nach ein paar Minuten und einem Tee mit dem Fahrer des LKW neben mir ging es glücklicherweise weiter und wir schoben uns Fahrzeug für Fahrzeug an den ausgebrannten Wracks vorbei. Krankenwagen standen kreuz und quer auf der Straße, Polizisten regelten den Verkehr und Feuerwehrleute löschten die letzten kleinen Brände. Alles war erstaunlich gut organisiert und ich winkte einem der Polizisten zum Dank.
Samsun erreichte ich gegen 16 Uhr. Ich rief meinen Host an, holte ihn ab und wir suchten gemeinsamen in der engen Innenstadt von Samsun einen Parkplatz, was wirklich kein einfaches Unterfangen war. Letztendlich parkte ich auf einem „Behindertenparkplatz“, das Schild wurde aber laut meines Hosts von einem Anwohner aufgestellt, sodass es ohne Bedeutung war. Er wolle sich einfach nur seinen Parkplatz vor dem Haus sichern. Ich hoffte innigst, dass mein Auto nicht Ziel eines Wutausbruches über den belegten Parkplatz werden würde. Sicherheitshalber klappte ich noch meinen Außenspiegel ein.
Noch 200 Kilometer bis Samsun!
Ersan, mein Host, lebte in einer großzügigen Wohnung mitten in der Innenstadt, zusammen mit seinen Katzen und seinem Hund. Er hat mich die drei Tage, die ich dort war, regelrecht verwöhnt: Ich hatte mein eigenes Zimmer, er kochte für mich und zeigte mir ausführlich die Stadt. Und er hat mir Socken geschenkt!
Auch wurde ich durch einen Freund vor Ersan in die deutsche Schule in Samsun, TAKEV, eingeladen und der Schulleitung als „Besuch aus Deutschland“ vorgestellt. Man hat sich sehr über mich gefreut, mir stolz die Schule gezeigt und möchte mich irgendwann noch einmal einladen.
Wir gingen anschließend noch die schöne Promenadenanlage in Samsun entlang, im Sommer wird es dort wohl noch schöner als jetzt schon sein. Wir waren nahezu die einzigen Personen auf dem breiten Weg und eine leichte Brise vom Schwarzen Meer wehte sanft um uns herum. Wir begannen ein wenig über die Türkei zu sprechen und kamen natürlich auch wieder auf Erdogan zu sprechen.
Auch Ersan ist kein Erdogan-Fan, verschließt er doch das Land zunehmend gegenüber der internationalen Gemeinschaft. Auch kritisiert er die Pläne Erdogans; die Türkei nehme immer mehr die Züge einer Diktatur an. Er blickt gespannt auf die Zukunft und vor Allem auf die Präsidentschaftswahlen 2019.
Bedingt durch seine Mehrheit im Parlament und einer quasi nicht vorhandenen Opposition kann Erdogan Gesetze bzw. Dekrete nach seinem Geschmack erlassen, ohne dass ihn jemand daran hindert. Dafür haben vor Allem die gebildeten Türken Angst, die sich der dramatischen Situation bewusst sind doch das einfache Volk sehe nur den Erdogan, der neue Straßen gebaut hat und Moscheen renoviert.
Laut Ersan hoffen gar Einige (was zugegeben recht zynisch ist), dass Erdogans Krebserkrankung wieder ausbricht und das türkische Volk „erlöst“ wird.
Auch ich blicke weiterhin gespannt auf die Türkei, was die politische Entwicklung angeht. Im Moment kann ich aber eines auf jeden Fall behaupten: Die Türkei, wie ich sie bisher kennengelernt habe, ist sicher, schön, gastfreundlich und in keiner (keinster) Weise gefährlich!
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Am darauffolgenden Morgen schlief ich aus und ging noch etwas einkaufen, bevor ich mich von Ersan verabschiedete und fuhr zügig los. Die Straße folgte dem Verlauf des Meeres und schlängelte sich zwischen Ufer und den angrenzenden Bergen hindurch.
Nach einer unspektakulären, aber regnerischen Fahrt kam ich kurz vor der Dämmerung bei Chrissy und Daniel an, die ich an der türkischen Grenze getroffen hatte. Die beiden fahren mit ihrem weißen VW-Bulli „Ole“ ebenfalls Richtung Asien, wer ihre Bilder und Beiträge sehen will findet sie unter t4_ole auf Instagram.
Die zwei hatten einen gemütlichen Platz direkt an der Steilküste mit grandioser Aussicht zum Schwarzen Meer gefunden, nahe dem Ort Degirmangzi. Eigentlich wollten wir auf einen Campingplatz nächtigen, doch der hatte noch gar nicht geöffnet.
Ole (links) und mein lieber, namensloser Audi
Ich packte schließlich im strömenden Regen meinen Gaskocher aus und wärmte mir eine durchaus schmackhafte Suppe auf; ich war überrascht, dass ich den Kocher direkt beim ersten Mal ohne Probleme bedienen konnte.
Wir unterhielten uns noch lange, tranken Wein und aßen Schokolade unter der kleinen Markise des Bullis. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, dennoch entschied ich mich dagegen mein Zelt aufzubauen, da der Boden immer noch nass war und es im Laufe der Nacht wieder beginnen sollte zu regnen. Ich deckte also mein Auto mit einer Plane ab, klappte den Beifahrersitz um und machte es mir im Schlafsack gemütlich. Irgendwann hatte ich tatsächlich eine gute Schlafposition gefunden und schlief ein.
Wer braucht schon Hotels…
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Ich wurde vom Regen geweckt, der auf dem Autodach trommelte. Ein wenig Licht schien durch die Fenster, die nicht von der Plane bedeckt waren. Die Tropfen rannen unaufhörlich die Scheiben hinunter. Ich öffnete kurz die Tür und erblickte eine riesige Pfütze direkt neben dem Auto. Waghalsig sprang ich hinaus und kramte meine Frühstücksutensilien aus dem Kofferraum hervor. Ich kletterte zurück ins kalte Auto; Daniel und ich tauschten uns kurz über WhatsApp aus und ich aß ein schnelles Frühstück auf dem Beifahrersitz. Am liebsten hätte ich draußen gesessen, aber der Regen war wieder stärker geworden. Ich stopfte noch schnell die Plane in den Kofferraum und auf ging’s.
Wir fuhren im Konvoi zu Ersans Sommerhäuschen (der Host aus Samsun), er hatte es mir angeboten und verraten, wo der Schlüssel ist. Nach ca. einer Stunde Fahrt fuhren wir nacheinander die Gras-Auffahrt hoch, die bereits vom Regen durchnässt war. Wir blieben glücklicherweise nicht stecken.
Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass es regnete?
Ich stieg die steinerne Treppe hinauf, öffnete den außen angebrachten Sicherungskasten, tastete nach dem Schlüssel und öffnete die Tür. Stickige Luft schlug mir entgegen. Ich suchte den zweiten Sicherungskasten, schaltete das Licht ein und öffnete die Wasserleitung. Chrissy und Daniel folgten mir.
Wir machten Tee und versuchten ein Feuer im Ofen zu machen, hatten aber nicht genügend Holz. Ich rief Ersan an und er verriet mir, wie ich den Schuppen hinter dem Haus öffnen könne. Ich schaffte es nach mehreren Versuchen trotzdem nicht, die Tür ließ sich einfach nicht öffnen.
Plötzlich tauchten zwei Männer vor dem Haus auf, ein älterer und ein jüngerer; ich erklärte ihnen, dass mich Ersan aus Samsun eingeladen hatte. Die beiden schienen zu verstehen. Ich bat sie außerdem, mir bei der Schuppen-Tür zu helfen. Ohne Probleme drehten sie den Schlüssel und stießen die schwere, beschlagene Holztür auf (ich frage mich bis heute, wie sie das geschafft haben) und ich konnte, nachdem ich mich überschwänglich bei ihnen bedankt hatte und sie ihres Weges gingen, etwas Holz in die Hütte tragen.
Daniel machte ein Feuer, wir tranken weiter Tee und entschieden uns, in den nächsten Ort zu fahren und ein Restaurant zu finden. Nach langer Suche fanden wir schließlich eines, aßen ein reichhaltiges Abendessen und fuhren zufrieden zurück in die Hütte.
Wir tranken wieder etwas Tee und vertrieben uns die Zeit mit Spielen. Als es schon spät war, kletterten die beiden in ihren Bulli und ich machte es mir im Schlafzimmer der Hütte gemütlich. Es war nicht luxuriös, dafür aber trocken, warm und es gab Strom und Wasser.